Storytelling

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Storytelling – Geschichten erzählen. Gerade DIE Empfehlung in der Onlinewelt, wie man am besten und schnellsten für Kunden interessant wird. Man muss/soll seine eigene Lebensgeschichte erzählen, damit man im Kopf des Kunden hängenbleibt. Und ich frage mich dann immer: ist das nicht in manchen Fällen einfach zu persönlich? Möchte man wirklich mit seiner Vergangenheit nach außen gehen? Kann man Geschichten erzählen, die Löcher haben? Löcher mit Informationen, die man einfach für sich behalten will?

Im persönlichen Gespräch fällt es mir gar nicht schwer, auf Fragen wie: „Warum bist du denn eigentlich Psychologin geworden?“ zu antworten. Das ergibt sich dann halt so und ich kenne mein Gegenüber wenigstens persönlich. Bei Fragen online, per Email oder Messenger sieht es dann schon anders aus. Man will gewisse Leute aus seiner Vergangenheit schützen und immerhin steht die Begründung dann schwarz auf weiß im Netz, für jeden lesbar.

Manches erzähle ich aber gerne, weil es in kurzen Worten erklärt, warum ich heute so bin, wie ich bin. Warum ich so reagiere, wie ich reagiere. Und warum mir manche Dinge einfach wirklich, wirklich wichtig sind. Zum Beispiel das Thema Pflegekind. Ich bin selbst als Pflegekind in der Verwandtenpflege aufgewachsen. Das nannte man damals nur nicht so. Wenn Mutter aus irgendeinem Grunde nicht in der Lage war, ihr Kind selbst großzuziehen, dann sprangen halt die Verwandten ein. Das machte man meist so unter der Hand, damit die Nachbarn nichts zu tuscheln haben. Wir wohnten damals sowieso im Hause meiner Großeltern, weil die auf mich aufpassten, wenn meine Mutter arbeitete. Als sich meine Eltern trennten, zog zuerst mein Vater aus. Kurze Zeit später dann auch noch meine Mutter und so blieb ich mit meinen 3 Jahren einfach zurück. 7 Jahre später kam meine Mutter an und erzählte mir, dass sie mit einem Wunschkind schwanger ist. Ich weiß noch heute, wie ich dachte (nein, WUSSTE), dass das nicht gut gehen kann und dass dieses Baby einen schweren Weg vor sich haben wird. Mit 11 Jahren fing ich an, Bücher über Kindertherapien zu lesen. Dibs von Virginia M. Axline, Lovey, Jadie und Sheila waren Bücher, die ich verschlungen habe. Mehrfach. Mit 12 Jahren erkundigte ich mich bei einer befreundeten Sozialpädagogin, ob es mir möglich wäre, meinen inzwischen einjährigen Bruder zu mir zu nehmen. Zum Glück nahm mich diese Frau sehr ernst und erklärte mir ganz liebevoll, warum das nicht funktionieren kann. Aber es hatte sich in meinem Kopf festgesetzt, dass ich so werden wollte wie die Psychologen, Sozialarbeiter und Lehrer in meinen Büchern. Ich wollte etwas verändern, ich wollte Menschen helfen. Somit stand mein Berufswunsch schon mit 11 Jahren fest: ich wollte Psychologin werden.

Aber in diesem Alter kam natürlich zuerst mal das Leben dazwischen. Trotzdem: als ich 18 Jahre alt war, kam mein 7 Jahre alter Bruder tatsächlich zu mir, nachdem er in der Schule sehr auffällig geworden war. Und er blieb, bis er erwachsen war. Jetzt war ich selbst Pflegemutter. Mein „Wunsch“ von damals hatte sich also erfüllt. Somit wusste ich eine Menge über Pflegekinder und ihre spezielle Problematik, sowohl aus eigenem Erleben als auch aus der Sicht der Erziehungsperson. Es interessierte mich immer mehr. Ich verschlang Bücher zu diesem Thema und investierte ein (gefühltes) Vermögen in Literatur zu Psychologie, Kindererziehung, Traumata und Pflegekinder.

Anfang 20 war ich dann Hausfrau und „Pflegerin“. Pflegerin von meiner Großmutter, meinem Sohn, meinem Pflegesohn / Bruder, meinen Hunden und jeder Menge Kleingetier. Und ich las immer noch. Und ich wollte immer mehr wissen. Und ich wollte eine solide Grundlage haben. Einige Fragen hatten sich beantwortet, andere warfen nur noch mehr neue Fragen auf. Kurz gesagt: ich wollte immer noch Psychologin werden. Basta! Koste es, was es wolle.

Was macht man, wenn man nicht zur Schule gehen kann, weil man daheim lauter Verpflichtungen hat? Man ist so auf der Suche nach Lösungen, dass man auf Werbung reinfällt: „Eine komplett neue Ausbildung neben Ihrem Ganztagsjob mit nur 2 Stunden Arbeit pro Woche“ oder so ähnlich. Denn: ich hatte gar kein Abitur. Als ich mit 18 eine Lehrstelle bekam, habe ich sofort die Höhere Handelsschule abgebrochen. Also musste ich das zuerst mal nachholen und zwar daheim. Das war die einzig machbare Möglichkeit und noch nicht mal besonders schlimm für mich, weil ich genau dieser Lerntyp bin. Alles schriftlich. Alles alleine. Mit selbständiger Einteilung. Ohne jemanden, der mir reinredet. Trotzdem hat mich das manchmal an meine Grenzen gebracht und ich kann jeden verstehen, der diese Art der Ausbildung abbricht. Heutzutage ist das mit Internet wohl was ganz anderes. Damals bekamen wir den Lehrstoff jeden Monat mit grünen Lehrbriefen per Post geschickt und mussten da quasi alleine durch. Klar konnte man „den Lehrer“ fragen. Aber dann musste man die Frage mit den Hausaufgaben in einem Kuvert zur Schule schicken und Ewigkeiten auf die Antwort warten. Nix Email. Nix Online-Module. Nix Skype. Also: alleine durch. Und da ich Familie hatte, habe ich statt versprochener 3 Jahre dann im Endeffekt ungefähr 6 Jahre gebraucht. Meine Prüfungen machte ich mit dickem Bauch: ich war wieder schwanger und hatte endlich Abitur 🙂

Nach einer kurzen Babypause und zur Überbrückung noch einem Jahr Probestudium „Einführung in die Psychologie“ an der Fernuni in Hagen ging es dann richtig los: Studium an der Universität des Saarlandes. Anfangs war ich von mir selbst beeindruckt. Ich durfte zur Uni! Dann wurde es immer mühsamer. Ich war mindestens 10 Jahre älter als alle anderen. Während sich alle auf Sauf- äh….. Erkundungstouren näher kennenlernten, musste ich schnell nach Hause zu den Kindern. Manche Seminare oder Lerntreffs konnte ich wegen seltsamer Zeiten (Sonntagvormittag zum Beispiel) einfach nicht wahrnehmen. Und daheim lernen ging auch erst spätabends, wenn alle anderen im Bett waren. Nach vier Semestern kamen die Vordiplomprüfungen und ich stellte anschließend ganz erstaunt fest: hey, ich bin ja noch dabei! Wir schätzten damals, dass etwa 50% aller Studenten, die mit uns angefangen hatten, während dieser Zeit schon weg vom Fenster waren. Fähige Leute mit einem Abidurchschnitt von 1,4, die wirklich gute Psychologen geworden wären. Warum? Weil zu Anfang des Studiums Statistik im Vordergrund steht und nicht das, was einen wirklich interessiert. Und Statistik war so ne Sache für sich. Überhaupt war das alles nicht ganz so einfach, weil ich manche Vorkenntnisse nicht hatte, die scheinbar für jeden anderen selbstverständlich waren: einwandfreie Englischkenntnisse (viele waren ein Jahr im Ausland gewesen), besondere Lerntechniken, Referate halten. Aber hey, ich gebe niemals auf! Also weiter durch und im Hauptdiplomstudiengang konnten wir uns dann endlich mehr auf den Stoff konzentrieren, der uns wirklich interessierte. Bei mir war das auf jeden Fall Entwicklungspsychologie, zusammen mit Sozialpsychologie und alles über Traumata. Irgendwie habe ich es immer weiter geschafft, mich mit letzter Kraft und gegen den ausdrücklichen Willen meines Hausarztes mit heftigster Atemnot wegen Bronchitis zu den Prüfungen geschleppt und sogar die beiden Pflichtpraktika erledigt: eins bei einem Onlinepsychologen (da gab es keine Richtlinien, weil das vor mir noch nie jemand gemacht hatte) und eins bei einer Traumatherapeutin, bei der ich auch noch länger bleiben und lernen durfte.

Aber dann kam der absolute Oberhammer für mich: das, was ich mir für meine Diplomarbeit vorgestellt hatte, war praktisch leider nicht machbar. Ich musste mir ein Thema vorgeben lassen und landete in der Neuropsychologie-Abteilung! Ich! Wo ich die schon die ganze Zeit gemieden hatte. Null Ahnung von allem. Die komplette Fachlektüre in Englisch, was ich nicht konnte! Und die Diplomarbeit mit dem wunderschönen Namen: „Gibt es doch Evidenz für die Aktivationsausbreitungshypothese?“ Ähem…. Ich weiß bis heute nicht, wie ich da durchgekommen bin. Mit viel Geheule (daheim, im stillen Kämmerlein). Mit wenig Verständnis für das Thema (sozusagen minus Null). Mit vielen Blackouts (soooo peinlich) und einem Professor, der mir irgendwann sagte, es wäre doch besser für mich, wenn ich mein Studium aufgeben würde. Jetzt? So ganz am Ende? Im Leben nicht! Da kam dann mein Sturkopf durch: jetzt erst recht! Also: Gas geben, Englisch-Fachvokabeln pauken, Versuchspersonen suchen und eine Präsentation vor lauter Leuten halten, die mehr Ahnung vom Thema haben als ich (was jetzt nicht wirklich eine Kunst war). Und irgendwann im Jahre 2006  hatte ich es geschafft: ich war tatsächlich Diplom-Psychologin!

Und seither weiß ich, dass man alles schaffen kann, wenn man es nur wirklich will. Das ist für mich kein aufgeschnapptes Schlagwort, sondern erlebte Wirklichkeit! Ich weiß, was totale Überforderung ist. Ich weiß, wie es ist, wenn man über Wochen und Monate hinweg jede Nacht lernt und tagsüber die Augen kaum noch aufbekommt. Ich weiß, wie es ist, wenn man einen fast unüberwindbaren Berg Arbeit vor sich hat. Und ich weiß, wie es ist, wenn man fast 30 Jahre für seinen Traum braucht!

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